Mathematik: Über die Adjunktion von Wurzeln
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Mathematik

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Über die Adjunktion von Wurzeln

Eine beliebte Aufgabe aus der Algebra ist es, den Grad und die Galoisgruppe von Erweiterungen der Form $\IQ(\sqrt{p},\sqrt{q},\dotsc)$ für konkrete Beispiele von Primzahlen $p,q,\dotsc$ zu bestimmen, zum Beispiel von $\IQ(\sqrt{2},\sqrt{3})$. Außerdem soll oftmals ein primitives Element und dessen Minimalpolynom gefunden werden. In diesem Artikel behandeln wir allgemeiner Erweiterungen der Form $K(\sqrt{\Delta})$ eines Körpers $K$ der Charakteristik $\neq 2$ für beliebige Untergruppen $\Delta \subseteq K^{\times}$. Es handelt sich um einen relativ einfachen Spezialfall der Kummertheorie, nämlich für den Exponenten $2$.


Gruppen von Wurzeln

Sei $K$ ein Körper mit $\mathrm{char}(K) \neq 2$. Alle algebraischen Erweiterungen von $K$ sind im Folgenden innerhalb eines fixierten algebraischen Abschlusses $\overline{K}$ von $K$ zu verstehen. Wenn $a \in K$, so meinen wir mit $\sqrt{a} \in \overline{K}$ irgendein Element mit $a = \sqrt{a}^2$ (es gibt ja zwei davon wenn $a \neq 0$). Sei $L/K$ eine algebraische Erweiterung. Wir interessieren uns für die Wurzeln von Elementen in $K$, die in $L$ liegen. Weil für die $0$ sowieso nichts Interessantes passiert, schließen wir sie aus. Wir betrachten also die Menge $W(L) := \{a \in K^{\times} : \sqrt{a} \in L^{\times}\} = K^{\times} \cap (L^{\times})^2.$ Offenbar ist $W(L)$ eine Untergruppe von $K^{\times}$. Ist umgekehrt $\Delta$ eine Untergruppe von $K^{\times}$, so betrachten wir die algebraische Körpererweiterung $K(\sqrt{\Delta}) := K(\sqrt{a} : a \in \Delta)$ von $K$, die durch Adjunktion aller Wurzeln aus $\Delta$ entsteht. Es gilt also nach Konstruktion $\Delta \subseteq W(K(\sqrt{\Delta})).$ Allgemeiner gilt für eine beliebige algebraische Erweiterung $L/K$ genau dann $\Delta \subseteq W(L)$, wenn $\sqrt{a} \in L$ für alle $a \in \Delta$, also wenn $K(\sqrt{\Delta}) \subseteq L$. Wir verwenden jetzt den Begriff einer Galoisverbindung. Die Äquivalenz $K(\sqrt{\Delta}) \subseteq L \iff \Delta \subseteq W(L)$ besagt nämlich gerade, dass $\Delta \mapsto K(\sqrt{\Delta})$ und $L \mapsto W(L)$ eine Galoisverbindung von der partiellen Ordnung der Untergruppen $K^{\times}$ in die partielle Ordnung der algebraischen Erweiterungen von $K$ ist. Das hilft uns hier weiter, denn jede Galoisverbindung beschränkt sich zu einer Galoiskorrespondenz zwischen den Fixpunkten. Das bedeutet in unserem Fall: Satz 1. Es gibt einen Isomorphismus von partiellen Ordnungen zwischen der partiellen Ordnung der Untergruppen $\Delta \subseteq K^{\times}$ mit $\Delta = W(K(\sqrt{\Delta}))$ und der partiellen Ordnung der algebraischen Erweiterungen $L/K$ mit $L = K(\sqrt{W(L)})$. Bisher ist hier tatsächlich "nichts passiert". Satz 1 ist eine reine Formalität. Es wird nun erst interessant, wenn wir die Fixpunkte auf beiden Seiten näher bestimmen.

Bestimmung der Fixgruppen

Wir starten mit der Bestimmung der Untergruppen. Satz 2. Eine Untergruppe $\Delta \subseteq K^{\times}$ erfüllt genau dann $\Delta = W(K(\sqrt{\Delta}))$, wenn $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$. Beweis. Für jede algebraische Erweiterung $L/K$ gilt offenbar $(K^{\times})^2 \subseteq W(L)$. Daher ist die Richtung $\Rightarrow$ klar. Nun sei $\Delta \subseteq K^{\times}$ eine Untergruppe mit $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$. Wir müssen $\Delta = W(K(\sqrt{\Delta}))$ zeigen, wobei nur die Inklusion $\supseteq$ fraglich ist. Sei dazu $a \in W(K(\sqrt{\Delta}))$, das heißt $a \in K^{\times}$ mit $\sqrt{a} \in K(\sqrt{\Delta}).$ Es gibt endlich viele Elemente $\delta_1,\dotsc,\delta_n \in \Delta$ mit $\sqrt{a} \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n}).$ Um $a \in \Delta$ zu zeigen, führen wir eine Induktion nach $n$ aus. Im Fall $n=0$ (warum ich bei $n=0$ starte, steht hier) haben wir $\sqrt{a} \in K$, also $a \in (K^{\times})^2 \subseteq \Delta$. Nun gelte die Behauptung bereits für $n-1$, wobei $n \geq 1$. Schreibe $\sqrt{a} = u + v \sqrt{\delta_n}$ mit $u,v \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_{n-1}})$. Quadrieren liefert $a = u^2 + v^2 \delta_n + 2 u v \sqrt{\delta_n}.$ Angenommen, es gilt $uv \neq 0$. Dann ist also $\sqrt{\delta_n} \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_{n-1}})$ und damit auch $\sqrt{a} \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_{n-1}})$. Die Induktionsannahme liefert direkt $a \in \Delta$. Nun gelte $uv=0$. Wenn etwa $u=0$, haben wir $a = v^2 \delta_n$ und damit $\sqrt{a/\delta_n} = \pm v \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_{n-1}}).$ Die Induktionsannahme zeigt nun $a/\delta_n \in \Delta$ und damit auch $a \in \Delta$. Wenn schließlich $v=0$, haben wir $a = u^2$, also $\sqrt{a} = \pm u \in K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_{n-1}}).$ Die Induktionsannahme liefert also direkt $a \in \Delta$. $\checkmark$

Bestimmung der Fixkörper

Wir sagen, eine Gruppe $G$ ist vom Exponenten $n \in \IN$, wenn $g^n=1$ für alle $g \in G$ gilt. Bekanntlich ist jede Gruppe vom Exponenten $2$ abelsch. Eine Galoiserweiterung sei vom Exponenten $n$, wenn es ihre Galoisgruppe ist. Satz 3. Eine algebraische Erweiterung $L/K$ erfüllt genau dann $L = K(\sqrt{W(L)})$, wenn $L/K$ eine Galoiserweiterung vom Exponenten $2$ ist. Beweis. Für jede Untergruppe $\Delta \subseteq K^{\times}$ ist $K(\sqrt{\Delta})$ normal und separabel über $K$, weil es der Zerfällungskörper der separablen Polynome $T^2-a \in K[T]$ mit $a \in \Delta$ ist; hier geht unsere Annahme $\mathrm{char}(K) \neq 2$ ein. Sei nun $\sigma : K(\sqrt{\Delta}) \to K(\sqrt{\Delta})$ ein $K$-Automorphismus und $a \in \Delta$. Dann gilt $\sigma(\sqrt{a})=\pm \sqrt{a}$ wegen $\sigma(\sqrt{a})^2=\sigma(a)=a$. Wenn $\sigma(\sqrt{a})=-\sqrt{a}$, folgt $\sigma^2(\sqrt{a})=\sigma(\sigma(\sqrt{a})) = \sigma(-\sqrt{a})=\sqrt{a}$, und im Fall $\sigma(\sqrt{a})=\sqrt{a}$ gilt $\sigma^2(\sqrt{a})=\sqrt{a}$ sicherlich ebenfalls. Wir erkennen damit $\sigma^2=\mathrm{id}$. Damit ist die eine Richtung gezeigt. Nun sei umgekehrt $L/K$ eine Galoiserweiterung vom Exponenten $2$. Wir müssen zeigen, dass $L$ durch Adjunktion von Wurzeln aus Elementen von $K$ entsteht. Jedes Element von $L$ liegt in einer endlichen Galoiserweiterung in $L$, sodass wir $L/K$ als endlich annehmen dürfen. Weil $\mathrm{Gal}(L/K)$ abelsch ist, ist übrigens jeder Zwischenkörper von $L/K$ auch eine Galoiserweiterung von $K$, ebenfalls vom Exponenten $2$. Den nächsten Schritt könnten wir mit dem Struktursatz endlicher abelscher Gruppen erledigen, aber wir machen es elementarer: Die Gruppe $\mathrm{Gal}(L/K)$ ist eine endliche abelsche Gruppe vom Exponenten $2$, trägt also die Struktur eines endlich-dimensionalen $\IF_2$-Vektorraumes und besitzt damit eine Basis. Für die additive Gruppe folgt dann $\mathrm{Gal}(L/K) \cong (C_2)^n$ für ein $n \in \IN$, wobei $C_2$ die zyklische Gruppe der Ordnung $2$ ist. Wenn $n=0$ bzw. $L=K$, ist nichts zu zeigen. Nun sei $n \geq 1$ und die Behauptung für $n-1$ gezeigt. Wir können wegen der obigen Bestimmung der Galoisgruppe $\mathrm{Gal}(L/K) = H_1 \times H_2$ schreiben, wobei $\mathrm{ord}(H_1)=2$ und $\mathrm{ord}(H_2)=2^{n-1}$. Insbesondere gilt $H_1 \cap H_2 = \{1\}$. Es gilt $[L^{H_1}:K] = [\mathrm{Gal}(L/K):H_1] = 2^{n-1},$ sodass $L^{H_1}$ nach Induktionsannahme durch Adjunktion von Wurzeln aus $K$ entsteht. Außerdem gilt $[L^{H_2}:K] = 2$, sodass die Lösungsformel für quadratische Gleichungen (hier brauchen wir erneut $\mathrm{char}(K) \neq 2$) impliziert, dass auch $L^{H_2}$ durch Adjunktion einer Wurzel aus $K$ hervorgeht. Dies gilt also auch für das Kompositum $L^{H_1} \cdot L^{H_2}$, welches aber nach dem Hauptsatz der Galoistheorie gleich $L^{H_1 \cap H_2} = L$ ist. $\checkmark$ Korollar 4. Es gibt einen Isomorphismus von partiellen Ordnungen zwischen der partiellen Ordnung der Untergruppen $\Delta \subseteq K^{\times}$ mit $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$ und der partiellen Ordnung der Galoiserweiterungen von $K$ vom Exponenten $2$. Beweis. Dies ist eine Kombination der Sätze 1,2,3. $\checkmark$ Die Untergruppen $\Delta$ mit $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$ in dem Korollar entsprechen (wegen des Korrespondenzsatzes) zugleich den Untergruppen der Quotientengruppe $K^{\times} / (K^{\times})^2$, aber wir bleiben hier lieber in $K^{\times}$, auch wenn das Korollar üblicherweise darüber formuliert wird. Endliche Körper sind von der Theorie natürlich nicht ausgeschlossen (siehe auch hier). Zum Beispiel ist $\IF_{5^2}$ ist eine Galoiserweiterung vom Grad $2$ über $\IF_5$, und kann auch tatsächlich als $\IF_{5^2}=\IF_5(\sqrt{2})=\IF_5(\sqrt{3})$ geschrieben werden (beachte $\sqrt{-1}=2$ wegen $5=0$).

Bestimmung der Galoisgruppe

Satz 5. Sei $\Delta \subseteq K^{\times}$ eine Untergruppe mit $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$. Die Galoisgruppe von $K(\sqrt{\Delta})/K$ ist dann isomorph zu $\mathrm{Hom}(\Delta,C_2) \cong \mathrm{Hom}(\Delta/(K^{\times})^2,C_2)$. Beweis. Wir realisieren $C_2$ als multiplikative Gruppe $\{\pm 1\}$. Für $\sigma \in \mathrm{Gal}(K(\sqrt{\Delta})/K)$ haben wir im Beweis von Satz 3 gesehen, dass die Abbildung $\Delta \to \{\pm 1\}$, $a \mapsto \sigma(\sqrt{a})/\sqrt{a}$ wohldefiniert ist. Sie legt $\sigma$ eindeutig fest, und ist außerdem ein Homomorphismus von Gruppen. Wir erhalten damit eine injektive Abbildung $\mathrm{Gal}(K(\sqrt{\Delta})/K) \to \mathrm{Hom}(\Delta,\{\pm 1\}),\, \sigma \mapsto (a \mapsto \sigma(\sqrt{a})/\sqrt{a}).$ Eine einfache Rechnung zeigt, dass sie selbst ein Homomorphismus ist. Nun sei $\alpha : \Delta \to \{\pm 1\}$ ein Homomorphismus von Gruppen. Wir wählen mit dem Zornschen Lemma (wenn $\Delta/(K^{\times})^2$ endlich-erzeugt ist, braucht man das natürlich nicht und eine einfache Induktion reicht aus) ein maximales Paar $(\Delta',\sigma')$, bestehend aus einer Untergruppe $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta' \subseteq \Delta$ und einem $K$-Homomorphismus $\sigma' : K(\sqrt{\Delta'}) \to K(\sqrt{\Delta'})$ mit $\sigma'(\sqrt{a}) = \alpha(a) \cdot \sqrt{a}$ für alle $a \in \Delta'$. Wir wollen $\Delta'=\Delta$ zeigen. Angenommen, es gibt ein $a \in \Delta \setminus \Delta'$. Aus Satz 2 folgt $\sqrt{a} \notin K(\sqrt{\Delta'})$. Die Erweiterung $K(\sqrt{\Delta'},\sqrt{a})$ hat also Grad $2$ über $K(\sqrt{\Delta'})$. Das Minimalpolynom von $\sqrt{a}$ über $K(\sqrt{\Delta'})$ ist daher $T^2-a$. Dessen Nullstelle $\alpha(a) \cdot \sqrt{a}$ kann man also benutzen, um einen $K$-Endomorphismus $\sigma$ von $K(\sqrt{\Delta'},\sqrt{a})=K(\sqrt{\langle \Delta',a \rangle})$ zu definieren, der $\sigma'$ fortsetzt und $\sigma(\sqrt{a})=\alpha(a) \cdot \sqrt{a}$ erfüllt. Die Maximalität von $(\Delta',\sigma')$ liefert nun $\Delta' = \langle \Delta',a \rangle$ und damit $a \in \Delta'$, Widerspruch. Die Isomorphie $\mathrm{Hom}(\Delta,C_2) \cong \mathrm{Hom}(\Delta/(K^{\times})^2,C_2)$ folgt sofort aus dem Homomorphiesatz. $\checkmark$ Korollar 6. Mit der Notation aus dem vorigen Satz gibt es eine Kardinalzahl $n$ mit $\Delta/ (K^{\times})^2 \cong (C_2)^{\oplus n}$. Dann ist $\mathrm{Gal}(K(\sqrt{\Delta})/K) \cong (C_2)^n$. Wenn $n$ endlich ist, dann $[K(\sqrt{\Delta}) : K] = 2^n$. Beweis. $\Delta/ (K^{\times})^2$ ist eine Gruppe vom Exponenten $2$, also letztlich ein $\IF_2$-Vektorraum, und damit eine direkte Summe von Kopien von $C_2$. Wenn $n$ ihre Anzahl ist (also die Dimension als $\IF_2$-Vektorraum), gibt es also einen Isomorphismus von Gruppen $\Delta/ (K^{\times})^2 \cong (C_2)^{\oplus n}$. Daraus folgt $\mathrm{Gal}(K(\sqrt{\Delta})/K) \cong \mathrm{Hom}(\Delta/(K^{\times})^2,C_2) \cong \mathrm{Hom}((C_2)^{\oplus n},C_2) \cong \mathrm{Hom}(C_2,C_2)^n \cong (C_2)^n.$ Wenn $n$ endlich ist, dann folgt hieraus, dass $K(\sqrt{\Delta})/K$ endlich ist. Der Grad ist die Ordnung der Galoisgruppe, also $2^n$. $\checkmark$

Adjunktion einzelner Wurzeln

Bisher haben wir ja nicht nur einzelne Wurzeln, sondern die Wurzeln einer gesamten Untergruppe adjungiert. Diesen Fall kann man aber auf den vorigen zurückführen: Wenn $\delta_1,\dotsc,\delta_n \in K^{\times}$ endlich viele Elemente sind, können wir die Untergruppe $\Delta := (K^{\times})^2 \cdot \langle \delta_1,\dotsc,\delta_n \rangle$ von $K^{\times}$ betrachten (die Quadrate nehmen wir nur hinzu, damit unsere Voraussetzung $(K^{\times})^2 \subseteq \Delta$ erfüllt ist). Es gilt offensichtlich $K(\sqrt{\Delta}) = K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n})$. Die Bilder $[\delta_1],\dotsc,[\delta_n]$ erzeugen den $\IF_2$-Vektorraum $\Delta / (K^{\times})^2$. Sie sind genau dann linear unabhängig und damit eine Basis über $\IF_2$, wenn $\prod_{i \in T} \delta_i \notin (K^{\times})^2$ (das ist eine multiplikativ geschriebene Linearkombination) für jede nicht-leere Teilmenge $T \subseteq \{1,\dotsc,n\}$. Korollar 7. Seien $\delta_1,\dotsc,\delta_n \in K^{\times}$ so gewählt, dass ihre Restklassen $[\delta_1],\dotsc,[\delta_n] \in (K^{\times})/ (K^{\times})^2$ linear unabhängig über $\IF_2$ sind. Dann ist $K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n})$ vom Grad $2^n$ über $K$, und die Galoisgruppe besteht aus den Automorphismen $\sqrt{\delta_i} \mapsto \pm \sqrt{\delta_i}$, wobei jede der $2^n$ Vorzeichenkombinationen möglich ist. Außerdem gilt: die Produkte $\prod_{i \in T} \sqrt{\delta_i}$ mit $T \subseteq \{1,\dotsc,n\}$ bilden eine $K$-Basis von $K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n})$. Beweis. Wir setzen wie zuvor $\Delta := (K^{\times})^2 \cdot \langle \delta_1,\dotsc,\delta_n \rangle$, sodass also $[\delta_1],\dotsc,[\delta_n]$ eine $\IF_2$-Basis von $\Delta / (K^{\times})^2$ ist. Aus Korollar 6 folgt, dass $K(\sqrt{\Delta})=K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n})$ Grad $2^n$ über $K$ besitzt. Wir wissen bereits aus dem Beweis von Satz 3, dass jeder Automorphismus von $K(\sqrt{\Delta})$ die genannte Form haben muss, und wegen Korollar 6 muss es $2^n$ Stück geben. Daher muss jede Vorzeichenkombination auch vorkommen, also durch einen Automorphismus realisiert sein. Die genannten Produkte der Wurzeln bilden eine $K$-Basis, weil sie ein Erzeugendensystem mit $2^n=[K(\sqrt{\Delta}):K]$ Elementen sind. $\checkmark$ Ein wichtiger Spezialfall ist der folgende: Sei $R$ ein faktorieller Ring mit Quotientenkörper $K$ (zum Beispiel $R=\IZ$ und $K=\IQ$) mit $\mathrm{char}(K) \neq 2$. Seien $p_1,\dotsc,p_n \in R$ paarweise teilerfremde quadratfreie Elemente. Zum Beispiel könnten das paarweise nicht-assoziierte Primelemente von $R$ sein (also $\pm$ Primzahlen im Falle von $R=\IZ$). Dann ist für jede nicht-leere Teilmenge $T \subseteq \{1,\dotsc,n\}$ auch das Produkt $\prod_{i \in T} p_i$ offenbar ebenfalls quadratfrei, insbesondere nicht in $(K^{\times})^2$ enthalten. Korollar 7 ist daher anwendbar. Auch alles, was noch folgt, ist auf diesen Spezialfall anwendbar.

Zwischenkörper

Die Zwischenkörper von $K(\sqrt{\delta}_1,\dotsc,\sqrt{\delta_n})$ über $K$ (mit der Notation aus Korollar 7) entsprechen wegen des Hauptsatzes der Galoistheorie bijektiv den Untergruppen der Galoisgruppe, die zu $(C_2)^n$ isomorph ist. Das sind also letztlich die Unterräume des $\IF_2$-Vektorraumes $\IF_2^n$, sodass die Bestimmung reine lineare Algebra ist; mehr dazu in meinem Artikel über $q$-Binomialkoeffizienten. Schauen wir uns das Beispiel $n=2$ einmal an: Hier hat $C_2 \times C_2$ die Untergruppen $\{1\}$, $C_2 \times \{1\}$, $\{1\} \times C_2$, $\{(x,x) : x \in C_2\}$ und $C_2 \times C_2$. Die zugehörigen Fixkörper sind $K(\sqrt{\delta_1},\sqrt{\delta_2})$, $K(\sqrt{\delta_2})$, $K(\sqrt{\delta_2})$, $K(\sqrt{\delta_1 \delta_2})$ und $K$. Das sind also alle Zwischenkörper von $K(\sqrt{\delta_1},\sqrt{\delta_2})$ über $K$. \begin{tikzcd}[nodes={inner sep=1pt}] & K(\sqrt{\delta_1},\sqrt{\delta_2}) & \\ K(\sqrt{\delta_1}) \ar[-]{ur} & K(\sqrt{\delta_1 \delta_2}) \ar[-]{u} & K(\sqrt{\delta_2}) \ar[-]{ul} \\ & K \ar[-]{ul} \ar[-]{u} \ar[-]{ur} & \end{tikzcd} Im Fall $n=3$ kann man sich überlegen, dass $(C_2)^3$ genau $16$ Untergruppen besitzt, und dass die $16$ Zwischenkörper von $K(\sqrt{\delta_1},\sqrt{\delta_2},\sqrt{\delta_3})$ so aussehen: \small\begin{tikzcd}[column sep=4pt, row sep=28pt,nodes={inner sep=1pt}] & & & K(\sqrt{\delta_1},\sqrt{\delta_2},\sqrt{\delta_3}) \ar[-]{dlll} \ar[-]{dll} \ar[-]{dl} \ar[-]{d} \ar[-]{dr} \ar[-]{drr} \ar[-]{drrr} & & & \\ K(\sqrt{\delta_2},\!\sqrt{\delta_3}) \ar[-]{ddr} \ar[-]{ddrr} \ar[-]{ddrrrrr} & K(\sqrt{\delta_1},\!\sqrt{\delta_3}) \ar[-]{ddl} \ar[-]{ddr} \ar[-]{ddrrr} & K(\sqrt{\delta_1},\!\sqrt{\delta_2}) \ar[-]{ddll} \ar[-]{ddl} \ar[-]{ddr} & K(\sqrt{\delta_1 \delta_2},\!\sqrt{\delta_3}) \ar[-]{ddl} \ar[-]{dd} \ar[-]{ddrrr} & K(\sqrt{\delta_1 \delta_3},\!\sqrt{\delta_2}) \ar[-]{ddlll} \ar[-]{dd} \ar[-]{ddrr} & K(\sqrt{\delta_2 \delta_3},\!\sqrt{\delta_1})\ar[-]{ddlllll} \ar[-]{dd} \ar[-]{ddr} & K(\sqrt{\delta_1 \delta_2},\!\sqrt{\delta_1 \delta_3}) \ar[-]{ddlll} \ar[-]{ddll} \ar[-]{ddl} \\ &&&&&&\\ K(\sqrt{\delta_1}) & K(\sqrt{\delta_2}) & K(\sqrt{\delta_3}) & K(\sqrt{\delta_1 \delta_2}) & K(\sqrt{\delta_1 \delta_3}) & K(\sqrt{\delta_2 \delta_3}) & K(\sqrt{\delta_1 \delta_2 \delta_3})\\ &&&K \ar[-]{ulll} \ar[-]{ull} \ar[-]{ul} \ar[-]{u} \ar[-]{ur} \ar[-]{urr} \ar[-]{urrr} &&& \end{tikzcd}

Zum Minimalpolynom

Korollar 8. Mit der Notation aus Korollar 7 ist $\sqrt{\delta_1}+\cdots+\sqrt{\delta_n}$ ein primitives Element von $K(\sqrt{\delta_1},\dotsc,\sqrt{\delta_n})$. Sein Minimalpolynom über $K$ ist gleich $\displaystyle \prod_{e_1=\pm 1,\dotsc,e_n = \pm 1} \bigl(T - (e_1 \sqrt{\delta_1} + \cdots + e_n \sqrt{\delta_n})\bigr).$ Beweis. Sei $s := \sqrt{\delta_1}+\cdots+\sqrt{\delta_n}$. Die Konjugierten von $s$ sind gerade die $\sigma(s)$, wobei $\sigma$ alle Elemente der Galoisgruppe durchläuft. Hierbei ist $\sigma(s) = \pm \sqrt{\delta_1} \pm \cdots \pm \sqrt{\delta_n} $. Wegen der bereits gezeigten linearen Unabhängigkeit der Wurzeln stimmt daher $\sigma(s)$ genau dann mit $s$ überein, wenn $\sigma(\sqrt{\delta_i})=\sqrt{\delta_i}$ für alle $i$, also wenn $\sigma=\mathrm{id}$. Es gilt also $\mathrm{Gal}(K(\sqrt{\Delta})/K(s))=1$ und damit $K(\sqrt{\Delta})=K(s)$. $\checkmark$ Weil Wurzeln sowieso nur bis auf Vorzeichen eindeutig definiert sind, bedeutet Korollar 8 zugleich, dass für jede Vorzeichenkombination $\pm \sqrt{\delta_1} \pm \cdots \pm \sqrt{\delta_n}$ ebenfalls ein primitives Element ist (mit demselben Minimalpolynom). Leider sind die Koeffizienten des Minimalpolynoms, die ja im Gegensatz zu den genannten Linearfaktoren in der Formel in $K$ liegen, nicht direkt ersichtlich. In konkreten Beispielen würde man das Polynom aber gerne konkret ausrechnen. Dafür ist es hilfreich, sich eine Rekursionsformel zu überlegen. Schreiben wir das Minimalpolynom oben als $P(\delta_1,\dotsc,\delta_n,T)$, so gilt offenbar im Fall $n=0$ $P(~~,T) = T,$ und für $n \geq 1$ $P(\delta_1,\dotsc,\delta_n,T) = P(\delta_1,\dotsc,\delta_{n-1},T + \sqrt{\delta_n}) \cdot P(\delta_1,\dotsc,\delta_{n-1},T - \sqrt{\delta_n}).$ Wir erhalten damit für $n=1$ $P(\delta_1,T) = (T+\sqrt{\delta_1}) \cdot (T-\sqrt{\delta_1}) = T^2 - \delta_1,$ und für $n=2$ $\begin{align*} P(\delta_1,\delta_2,T) & = ((T+\sqrt{\delta_2})^2 - \delta_1) \cdot ((T-\sqrt{\delta_2})^2 - \delta_1) = \dotsc \\ & = T^4 - 2 (\delta_1+\delta_2) T^2 + (\delta_1 - \delta_2)^2. \end{align*}$ Bemerkenswert ist, dass durch konkrete Beispiele von $\delta_1,\delta_2$ die schöne Symmetrie in den Koeffizienten dieses Polynoms völlig verloren geht. Und wir müssen hier auch nicht mehr zeigen, dass dieses Polynom irreduzibel ist; das ergibt sich einfach aus der allgemeinen Theorie. Für $n=3$ gilt übrigens $\begin{align*} P(\delta_1,\delta_2,\delta_3,T) &= T^8 \\ & - 4 (\delta_1+\delta_2+\delta_3) T^6 \\ & + \bigl(4(\delta_2\delta_3 +\delta_1\delta_3 + \delta_1\delta_2) + 6 (\delta_1^2+\delta_2^2+\delta_3^2)\bigr) T^4 \\ & + 4\bigl(-(\delta_1^3+\delta_2^3+\delta_3^3) + (\delta_2\delta_3^2+\delta_2^2 \delta_3 + \delta_1 \delta_3^2 + \delta_1^2 \delta_3 + \delta_1 \delta_2^2 + \delta_1^2 \delta_2) - 10 \delta_1\delta_2\delta_3\bigr) T^2\\ & + \bigl((\delta_1^4+\delta_2^4+\delta_3^4) - 4( \delta_2^3 \delta_3 + \delta_2 \delta_3^3 + \delta_1^3 \delta_3 + \delta_1 \delta_3^3 + \delta_1^3 \delta_2 + \delta_1 \delta_2^3 )\\ & + 6 (\delta_2^2 \delta_3^2 + \delta_1^2 \delta_3^2 + \delta_1^2 \delta_2^2 ) + 4(\delta_1^2 \delta_2 \delta_3 + \delta_1 \delta_2^2 \delta_3 + \delta_1 \delta_2 \delta_3^2)\bigr). \end{align*}$ Hier ein paar Beispiele für $n=2$ und $K=\IQ$: $\begin{array}{c|c} \text{Element} & \text{Minimalpolynom} \\\hline \phantom{-}\sqrt{2}+\sqrt{3} & T^4 - 10T^2 + 1 \\ \phantom{-}\sqrt{2}+\sqrt{5} & T^4 - 14 T^2 + 9 \\ \phantom{-}\sqrt{3}+\sqrt{5} & T^4 - 16 T^2 + 4 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{2} & T^4 - 2 T^2 + 9 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{3} & T^4 - 4 T^2 + 16 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{5} & T^4 - 8 T^2 + 36 \end{array}$ Und hier noch ein paar Beispiele für $n=3$ und $K=\IQ$: $\begin{array}{c|c} \text{Element} & \text{Minimalpolynom} \\\hline \phantom{-}\sqrt{2}+\sqrt{3}+\sqrt{5} & T^8 - 40 T^6 + 352 T^4 - 960 T^2 + 576 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{3}+\sqrt{5} & T^8 - 28 T^6 + 238 T^4 + 372 T^2 + 441 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{2}+\sqrt{5} & T^8 - 24 T^6 + 192 T^4 + 64 T^2 + 576 \\ \sqrt{-1}+\sqrt{2}+\sqrt{3} & T^8 - 16 T^6 + 88 T^4 + 192 T^2 + 144 \end{array}$

Abschluss

Wie bereits eingangs erwähnt, sind die hier vorgestellten Sätze Spezialfälle der Kummertheorie (nachzulesen etwa im Algebra-Buch von Siegfried Bosch, Abschnitt 4.9). Hierbei geht man von einer beliebigen natürlichen Zahl $n \geq 1$ aus (oben war $n=2$) unter der Annahme, dass $K$ eine primitive $n$-te Einheitswurzel besitzt, und konstruiert einen Isomorphismus zwischen der partiellen Ordnung der Untergruppen von $K^{\times}$, die $(K^{\times})^n$ umfassen, und der partiellen Ordnung der abelschen Galoiserweiterungen vom Exponenten $n$ (wie zuvor innerhalb eines fixierten algebraischen Abschlusses). Die Untergruppe $\Delta$ gehört dabei zur Erweiterung $K(\sqrt[n]{\Delta})$ mit der Galoisgruppe $\mathrm{Hom}(\Delta,C_n)$. Wenn $K$ nicht die Annahme erfüllt, eine primitive $n$-te Einheitswurzel zu besitzen, sieht die Klassifikation der abelschen Galoiserweiterungen weitaus komplizierter aus und führt zur Klassenkörpertheorie. Für $K=\IQ$ sagt zum Beispiel der Satz von Kronecker-Weber, dass jede endliche abelsche Galoiserweiterung von $\IQ$ in einem Kreisteilungskörper $\IQ(\zeta_m)$ enthalten ist.

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