Algebraische Topologie 1 - Motivation
Kommt man zum ersten Mal mit algebraischer Topologie in Berührung, scheinen einige Resultate auf den ersten Blick wie Zauberei. Die verwendeten Methoden und Beweistechniken fallen geradezu vom Himmel, möchte man denken. Tatsächlich sind viele Ideen aber tatsächlich nur Weiterentwicklungen sehr naheliegender Überlegungen und Konstruktionen, die sich aus bestimmen Fragestellungen ganz natürlich ergeben.
Bevor die eigentliche Einarbeitung in die algebraische Topologie erfolgt, möchte ich daher den ersten Artikel nutzen, um einige dieser Ideen und Konstruktionen vorzuführen.
Es wird dabei unter anderem Beispiele aus Funktionentheorie, Graphentheorie und Fixpunkttheorie geben.
Was ist das eigentlich?
Der algebraischen Topologie und den meisten ihrer Ausprägungen wie etwa Homotopie-Gruppen, Homologien, Kohomologien, liegt der Gedanke zugrunde, topologische Objekte und Eigenschaften auf algebraische Entsprechungen abzubilden. Im einfachsten Fall sind das schlichtweg Zahlen, d.h. numerische Kenngrößen wie etwa die Betti-Zahlen eines Raumes. Es können aber auch komplexere Objekte etwa Gruppen oder Vektorräume sein, in denen die topologischen Informationen kodiert sind.
So wird etwa bei der (Ko)Homologie einem topologischen Raum X bzw. einem Paar (X,A) bestehend aus einem topologischen Raum X und einem Unterraum A eine Folge von Moduln über einem festen Ring zugeordnet.
Das alleine ist natürlich lange keine eindeutige Beschreibung dafür, was "(Ko)Homologie" genau ist. Es gibt viele verschiedene Variationen dieses Themas. Eine Homologie- oder Kohomologie-Theorie zu definieren, ist auf vielfältige Weisen möglich. Je nach Anwendungsbereich sind auch verschiedene Varianten besser oder schlechter geeignet.
So arbeitet man im Zusammenhang mit Mannigfaltigkeiten oftmals mit der de-Rham-Kohomologie. Besonders einfach gestrickte Räume wie Simplizial- und CW-Komplexe erlauben die Definition von simplizialer und zellulärer Homologie, die eine sehr einfache Berechnung erlaubt.
Für alle topologischen Räume ist die singuläre Homologie definiert, die zwar kompliziert direkt zu berechnen ist, dafür aber hervorragende mathematische Eigenschaften besitzt und sich daher für theoretische Überlegungen sehr gut eignet.
Es stellt sich oft heraus, dass speziellere Spielarten von Homologien nur isomorphe Varianten der singulären Homologie sind. Das trifft etwa auf die simpliziale und die zelluläre Homologie zu. So kommen eine vergleichsweise einfache Berechnung und gute abstrakte Eigenschaften gleichermaßen zum Tragen. Wir werden das später noch an konkreten Beispielen sehen.
Die vielfältigen Grundideen und Definitionsspielarten der Objekte der algebraischen Topologie spiegeln die ebenso vielfältigen Anwendungsbereiche und die verschiedenen Entstehungsgeschichten dieser Ideen wider.
Ich möchte diesen Artikel nutzen, um ein paar kurze, motivierende Beispiele für die Objekte und Grundgedanken der algebraischen Topologie zu geben.
Lokal-Global-Obstruktionen
Ein Aspekt, der in einigen (Ko)Homologien steckt, ist es, Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Eigenschaften eines Objekts zu untersuchen und Einschränkungen widerzuspiegeln, die sich dort ergeben.
Ein Beispiel: Ist \emptyset!=U\subseteq\IR^3 offen, und f:U\to\IR^3 eine hinreichend glatte Funktion, so kann man sich die Frage stellen, ob f der Gradient einer Funktion F:U\to\IR ist.
Dafür gibt es eine notwendige Bedingung, nämlich rot$f=0. Ist sie erfüllt, so kann man tatsächlich auch stets lokal eine Stammfunktion von f finden, d.h. um jeden Punkt von U gibt es eine Umgebung, auf der f eine Stammfunktion hat. Auf ganz U ist das jedoch nicht immer möglich.
Es gibt Obstruktionen für die globale Existenz von Stammfunktionen. Geometrisch betrachtet sind es die "Löcher" in U, die uns das Leben dabei schwer machen.
Ist etwa U=menge(x\in\IR^3 | x_1^2+x_2^2!=0) und f(x)=(-x_2/(x_1^2+x_2^2), x_1/(x_1^2+x_2^2), 0), so gilt rot$f=0, wie man leicht nachrechnet. Jedoch ist f kein Gradient, denn wäre f=grad$F für ein F:U\to\IR, so würde für jeden Weg \gamma:[0,1]\to\ U gelten:
wegint(f(x),x,\gamma)=int(\ ,t,0,1)=int(D(F\circ\gamma)(t),t,0,1)=F(\gamma(1))-F(\gamma(0))
Insbesondere wäre das Wegintegral 0, wenn \gamma ein geschlossener Weg ist. Man kann sich aber davon überzeugen, dass dies für \gamma(t):=(cos(2\pi||t),sin(2\pi||t),0) nicht der Fall ist. Das Wegintegral über diesen Weg ist exakt gleich 2\pi. Demnach kann f keine Gradientenfunktion sein.
Ein völlig analoges Verhalten tritt bei der Problemstellung auf, zu entscheiden, ob eine Funktion U\to\IR^3 Rotation eines anderen Vektorfeldes U\to\IR^3 ist. Auch hier gibt es eine einfache notwendige Bedingung, nämlich div$f=0, die die lokale Lösbarkeit des Problems garantiert, während die globale Antwort an topologische Eigenschaften des Raumes U gekoppelt ist.
Auch hier ein Beispiel: U:=\IR^3|\\|menge(0) und f(x):=norm(x)_2^(-3)*x. Man kann sich wieder leicht davon überzeugen, dass div$f=0 ist. Mit einem ähnlichen Argument wie eben, können wir schließen, dass f keine Rotation einer anderen Funktion ist. Denn der Satz von Stokes sagt aus, dass in einem solchen Falle
int(\,x,M)=int(\,x,M)=int(\,x,\partial||M)
für jede glatte Fläche M\subseteq\IR^3 gelten müsste, wobei n der äußere Einheitsnormalenvektor der Fläche und t das Einheitstangentialfeld der Randkurve ist. Wenn wir eine randlose Fläche einsetzen, müsste insbesondere 0 herauskommen.
Man sich nun aber leicht überlegen, dass das Integral über f für die Oberfläche der Einheitskugel eben nicht verschwindet, sodass f also nicht als rot$F darstellbar ist.
Es stellt sich heraus, dass das wesentliche Hindernis, das bei beiden Problemen auftreten kann, ein "Loch" in U ist. Die Beispiele unterscheiden sich dabei in der "Dimension", die das Loch haben muss, um Ärger zu verursachen.
So ist im ersten Gegenbeispiel U=\IR\\||menge(x=y=0), d.h. aus dem \IR^3 wird eine Gerade herausgeschnitten, U hat ein "eindimensionales Loch". Der Weg, über den wir die Funktion f integriert haben, war nun genau ein solcher, der sich um dieses Loch nichttrivial herumwindet.
Im zweiten Beispiel wird hingegen der Nullpunkt entfernt, es liegt also ein "nulldimensionales Loch" vor. Die Fläche, über die wir f integriert haben, um einen Widerspruch herbeizuführen, hat auch hier die Eigenschaft, ungünstig um das Loch herum positioniert zu sein.
Ganz ähnliche Probleme erhält man, wenn man die verallgemeinerten Differentialoperatoren im \IR^n betrachtet.
Eine gemeinsame Verallgemeinerung dieser Fragestellungen führt direkt zur Definition der de\-Rham\-Kohomologie, die sich dem Problem gleich für beliebige \(endlichdimensionale, glatte\) Mannigfaltigkeiten annimmt.
Reellwertige Funktionen und Vektorfelder finden in der Sprache der Mannigfaltigkeiten ihr Gegenstück in den Differentialformen.
Auf einer Mannigfaltigkeit M kann man sich die Frage stellen, ob eine k\-Form \omega das Differential einer (k-1)\-Form \alpha ist. Wegen der Eigenschaft des Differentials, dass d(d\alpha)=0 für alle Formen \alpha gilt, ist d\omega=0 eine notwendige Bedingung. Betrachtet man die Spezialfälle von oben erneut, so erkennt man hierin die Bedingung rot$f=0 bzw. div$f=0 wieder.
Wie in den Spezialfällen gilt auch allgemein, dass d\omega=0 schon die lokale Existenz einer Stammfunktion sichert, die globale Existenz jedoch Einschränkungen aufgrund der Geometrie von M unterliegen kann.
Es ist nun naheliegend, einen genaueren Blick auf die Räume \Omega^k(M) der k\-Formen auf M zu werfen. Das Differential liefert eine Folge von linearen Abbildungen zwischen diesen Vektorräumen
\Omega^0(M) array(\small\ d\normal;\textrightarrow;\small$\normal) ... array(\small\ d\normal;\textrightarrow;\small$\normal) \Omega^(k-1)(M) array(\small\ d\normal;\textrightarrow;\small$\normal) \Omega^k(M) array(\small\ d\normal;\textrightarrow;\small$\normal) \Omega^(k+1)(M) array(\small\ d\normal;\textrightarrow;\small$\normal) ...
Der Unterraum B^k(M) der geschlossenen Formen, d.h. der Kern von d: \Omega^k\to\Omega^(k+1), und der Unterraum Z^k(M) exakten Formen, d.h. das Bild von d: \Omega^(k-1)\to\Omega^k, sind dabei für uns von Interesse.
Eine k\-Form \omega liegt genau dann in B^k, wenn d\omega=0 ist, d.h. wenn sie unsere notwendige Bedingung erfüllt. \omega liegt genau dann in Z^k, wenn sie Differential einer (k-1)\-Form ist.
Wegen der Eigenschaft d^2=0 des Differentials, ist Z^k(M)\subseteq\ B^k(M) und die Frage nach der globalen Existenz von Stammfunktionen ist die Frage, ob in dieser Inklusion Gleichheit gilt.
Noch ein weiteres Mal umformuliert, ist es die Frage, ob H^k(M):=B^k(M)\.\/Z^k(M) der triviale Vektorraum ist.
So weit, so unspektakulär. Es stellt sich nun jedoch heraus, dass die Vektorräume H^k(M), die man aus historischen Gründen DeRham\-Kohomologie\-Gruppen____ nennt, nur noch Homotopieinvarianten von M sind, also insbesondere gar nicht mehr von der differenzierbaren Struktur von M abhängen. Das ist eine starke \(und ad hoc schwer zu beweisende\) Aussage über die Kohomologie, die die Berechnung der Gruppen mit topologischen Methoden enorm erleichert.
So sagt uns die Homotopieinvarianz beispielsweise, dass H^k(\IR^n)=0 ist für alle k,n>0, da \IR^n zusammenziehbar, also homotopieäquivalent zu einem Punkt ist. Die Kohomologie des Punktes kann direkt ausgerechnet werden und weil \IR^n nun homotopieäquivalent zum Punkt ist, hat es die gleichen Kohomologiegruppen.
Die Eigenschaft H^k(\IR^n)=0 für k,n>0 oder allgemeiner H^k(U)=0 für konvexe Gebiete U\subseteq\IR^n ist auch als Lemma von Poincaré bekannt.
Neben dieser schon recht netten Eigenschaft hat die Kohomologie einer Mannigfaltigkeit von M noch viele weitere interessante Eigenschaften, die eine einfachere Berechnung der Kohomologie und damit tiefere Einsichten in die Geometrie von M erlauben.
Neben der Homotopie\-Invarianz sind das z.B. die Existenz diverser exakter Sequenzen, wie der Mayer\-Vietoris\-Sequenz, die die Kohomologien verschiedener Teilmengen von M miteinander in Verbindung setzt.
Die Kohomologiegruppen einer Mannigfaltigkeiten "messen" recht gut, wieviele und welche "Löcher" die Mannigfaltigkeit hat, so kann man sich die Dimension dim_\IR|H^k(M) als formale Präzision der anschaulichen "Anzahl der (k-1)-dimensionalen Löcher" vorstellen.
Weitere Beispiele für Lokal-Global-Obstruktionen sind etwa die Probleme von Cousin (siehe z.B. hier bei wikipedia), die ebenfalls durch eine geeignete Umformulierung auf kohomologische Objekte führen.
Windungszahlen
Sei \emptyset!=V\subseteq\IC offen und x_1, ..., x_k\in\ V paarweise verschiedene Punkte. Setze U:=V\\||menge(x_1, ..., x_k).
In der Funktionentheorie ist dann etwa für den Residuensatz die so genannte Windungszahl eines geschlossenen Weges \gamma:[0,1]\to\ U im Punkt x_i von entscheidender Bedeutung.
Eine Möglichkeit, die Windungszahl zu definieren, ist rein geometrisch. Man definiert die Windungszahl zunächst für den Nullpunkt.
Dafür wählt man eine stetige Argumentfunktion entlang des Weges \gamma, d.h. ein \Theta:[0,1]\to\IR, sodass \gamma(t)=abs(\gamma(t))*exp(2\pi||i\Theta(t)) für alle t\in\[0,1] gilt. So eine Funktion findet man z.B. dadurch, dass man das Bild von \gamma mit kleinen \eps-Kugeln überdeckt, die Funktion lokal innerhalb dieser Kugeln wählt und sie entsprechend zusammensetzt, wo sich die Kugeln überlappen.
Es stellt sich heraus, dass dann der Wert \Theta(1)-\Theta(0) von der konkreten Wahl von \Theta unabhängig ist und man kann daher die Windungszahl____ oder auch den Index____ des Weges \gamma um den Nullpunkt als
ind_array(\gamma)(0):=\Theta(1)-\Theta(0)
definieren. Für allgemeine Punkte x_i!=0 definiert man den Index ind_array(\gamma)(x_i) als den Index der verschobenen Kurve t\mapsto\gamma(t)-x_i um 0.
Bei jeder geschlossenen Kurve ist ind_array(\gamma)(x_i) eine ganze Zahl, wie man sich leicht überlegt.
Wenn man sich das \Theta(t) als Winkel von \gamma(t) bzgl. x_i vorstellt, dann wird klar, woher der Begriff "Windungszahl" kommt: ind_array(\gamma)(x_i) zählt, "wie oft" sich der Weg \gamma um den Punkt x_i herumwindet beim Durchlaufen der Kurve. Eine Windung in mathematisch positiver Richtung wird mit +1 gezählt, eine Windung in negativer Richtung mit -1.
define(text1,\big\blue\gamma_2)
\geo
makro(triangle,\
p(%1,%2,%3.M,hide) k(%3.M,0.1,%3.k,hide) \
p(%3.k,%4,%3.A,hide) \
konst(alpha,%4+120) p(%3.k,alpha,%3.B,hide) \
konst(alpha,%4-120) p(%3.k,alpha,%3.C,hide) \
fill(%3.A,%3.B,%3.C) \
)
x(-2,2)
y(-2.5,1)
ebene(400,350) noaxis()
punktform(o) nolabel()
p(-0.5,0,X) p( 0.5,0,Y)
color(B0E2FF) pen(2)
k(X,0.5,k1) k(Y,0.5,k2)
triangle( 0.5, 0.5,T1,180)
triangle(-0.5, 0.5,T2,180)
triangle( 0.5,-0.5,T3, 0)
triangle(-0.5,-0.5,T4, 0)
#
color(1874CD)
param(t,0,1.01,0.01)
kurve(1.5*cos(2*Pi()*t), 0.5*sin(2*Pi()*t)-1.5)
triangle(0,-1,T6,-180)
triangle(0,-2,T7,0)
print(\big\blue\alpha, -1.0,0.5)
print(\big\blue\beta, 0.9,0.5)
print(\text1,-1.5,-1)
print(x_1, 0.55,-0.05)
print(x_2,-0.45,-0.05)
\geooff
Eine Tatsache, die Windungszahlen für die Funktionentheorie interessant macht, ist, dass der Index sich als Kurvenintegral schreiben lässt:
ind_array(\gamma)(x_i)=1/2\pi||i*int(1/(z-x_i),z,\gamma)
Mit dieser Charakterisierung kann man dann zeigen, dass homotope Wege dieselben Indizes haben, d.h. gibt es eine stetige Abbildung H:[0,1]\times\[0,1]\to\ U, sodass
1.\forall\ s\in\[0,1]: H(s,opimg(*)) ein geschlossener Weg und
2.H(0,opimg(*))=\gamma_0 und H(1,opimg(*))=\gamma_1
ist, dann gilt ind_\gamma_0(x_i)=ind_\gamma_1(x_i).
Es kann jedoch sein, dass zwei nicht\-homotope Wege die gleichen Umlaufzahlen haben. Betrachte etwa folgende Wege in U:=\IC\\||menge(x_1, x_2):
geoprint()
Der Weg \gamma_1, der entsteht, wenn man erst \alpha, dann \beta, dann \alpha mit umgekehrter Orientierung und dann \beta in umgekehrter Orientierung durchläuft, und der Weg \gamma_2 haben dieselben Umlaufzahlen um x_1 und x_2. Die Umlaufzahlen für \gamma_2 sind 0, weil \gamma_2 die Punkte gar nicht umläuft. Die Umlaufzahlen von \gamma_1 sind 0, weil die Kurven jeden der beiden Punkte einmal positiv und einmal negativ orientiert umläuft.
Die beiden Wege sind jedoch nicht homotop, denn wollte man \gamma_1 in \gamma_2 stetig überführen, müsste man irgendwo die ausgeschlossenen Punkte x_1 oder x_2 passieren. \(Das muss natürlich präzise bewiesen werden.\)
Wenn man die Ergebnisse der Funktionentheorie mit einem algebraischen Auge betrachtet, dann ist es naheliegend, gewisse Operationen für Wege definieren zu wollen.
Zum Beispiel möchte man Wege "hintereinander" oder "in der anderen Richtung" durchlaufen. Das kann man natürlich machen, indem man aus zwei Wegen \gamma, \gamma^~ mit \gamma(1)=\gamma^~(0) einen Weg bastelt, der von \gamma(0) nach \gamma^~(1) läuft, bzw. einen Weg von \gamma(1) nach \gamma(0), etwa durch
(\gamma\oplus\gamma^~)(t):=cases(\gamma(2t),t<=1/2;\gamma^~(2t-1),t>=1/2) $bzw.$ \gamma^-(t):=\gamma(1-t)
Es ist jedoch auch wünschenswert, nicht auf die Einschränkung \gamma(1)=\gamma^~(0) achten zu müssen beim Verknüpfen der Wege. Außerdem ist klar, dass wir eine Zusammensetzung von \gamma und \gamma^~ noch auf viele andere Weisen hätten definieren können, ohne für die Berechnung komplexer Integrale etwas zu ändern, etwa indem wir eine homotope Variante von \gamma\oplus\gamma^~ benutzt hätten.
Noch schlimmer ist, dass die Reihenfolge, in der wir \gamma und \gamma^~ durchlaufen für die Integration egal ist, jedoch zu nicht homotopen Wegen führen kann.
Wir sollten uns also umsehen nach einer Möglichkeit, Wege [0,1]\to\ U irgendwie "generisch" zu verknüpfen.
Wir betrachten daher array(formale Summen)__ sum(a_k*\gamma_k,k=0,m) mit ganzen Zahlen a_k und Wegen \gamma_k. Eine solche Summe soll dann dafür stehen, dass der Weg \gamma_k genau abs(a_k)-mal durchlaufen wird und in der verkehrten Richtung, falls a_k<0.
Wir werden formale Summen von Wegen [0,1]\to\ U als Ketten____ bezeichnen.
Durch die offensichtliche Addition wird die Menge der Ketten zu einer Gruppe, die man oft mit S_1(U) bezeichnet. Technisch gesprochen ist S_1(U) die so genannte freie abelsche Gruppe über C^0([0,1],U).
Ein Weg \gamma war geschlossen, wenn \gamma(0)=\gamma(1) ist. Wir nennen eine solche formale Summe sum(a_k*\gamma_k,k) nun geschlossen____ oder auch Zyklus____, wenn aus jedem Punkt genauso viele Wege starten wie dort enden, d.h. für jeden Punkt z\in\ U muss sum(a_k,\gamma_k(0)=z) = sum(a_k,\gamma_k(1)=z) sein.
Die Menge aller Zyklen ist eine Untergruppe von S_1(U) und wird mit Z_1(U) bezeichnet. Man kann nun definieren, dass
int(f,z,\big\Sigma\normal a_k*\gamma_k):=sum(a_k*int(f,z,\gamma_k),k=0,m)
sein soll \(so wie es ja auch bei der echten Zusammensetzung von Wegen der Fall ist\).
Mit dieser Definition wird w\mapsto\ ind_w(x_i):=int(1/(z-x_i),z,w) ein Gruppenhomomorphismus Z_1(U)\to\IZ.
Mit Hinblick auf den Residuensatz muss man zwei Zyklen w und w^~ nur dann unterscheiden, wenn ihre Indizes an jedem Punkt gleich sind, d.h. wenn ihre Differenz im Kern aller Index\-Homomorphismen liegt.
Wenn man den Durchschnitt dieser Kerne mit B_1(U) bezeichnet, dann heißt das, dass im Residuensatz für die Berechnung von
int(f(z),z,w)
nur die Restklasse von w in H_1(U):=Z_1(U)\.\/B_1(U) von Bedeutung ist. Wenn man sich die Berechnung der Indizes vor Augen führt, erkennen wir, dass nun mit den Bezeichnungen von oben
[\gamma]+[\.\gamma^~]=[\gamma+\gamma^~]=[\gamma\oplus\gamma^~] und -[\gamma]=[-\gamma]=[\.\gamma^-]
gilt, d.h. zumindest in H_1(U) sind die formale Addition und Zusammensetzung von Wegen gleichwertig.
Dieses H_1(U) ist die array(erste \(singuläre\) Homologie\-Gruppe)____ von U.
Es ist aus der Konstruktion einsichtig, dass H_1(U) in einer gewissen Weise die "Löcher" in U widerspiegelt, da sich alle Konstruktionen immer irgendwie um das Verhalten bei den Punkten x_1, ..., x_k drehte.
Man kann zeigen, dass [w]\mapsto(ind_w(x_1), ..., ind_w(x_k)) ein Isomorphismus von H_1(U)\to\IZ^k ist. Der Rang von H_1(U) ist also gleich der Anzahl der Löcher.
H_1(U) hat weitere interessante Eigenschaften. Es stellt sich heraus, dass es \(bei geeigneter Modifikation der obigen Definition\) eine topologische Invariante des Gebietes U ist. Zusammen mit den anderen Homologiegruppen erhält man viele nützliche Informationen über U.
Triangulierungen
In den vorangegangen Abschnitten haben wir bereits Invarianten gewisser topologischer Räume kennen gelernt, die als Homologie bzw. Kohomologiegruppen bezeichnet wurden.
Eine weitere bekannte Invariante ist die Euler-Charakteristik einer Fläche, die zu den historischen Wurzeln der algebraischen Topologie gehört.
Eine Möglichkeit, sie sich zu veranschaulichen, ist folgende: Man stelle sich eine endliche, glatte Fläche vor, d.h. eine kompakte, zweidimensionale Mannigfaltigkeit ohne Rand. Viele Flächen (eigentlich alle, aber das ist schwer zu beweisen) lassen es zu, dass man sie "trianguliert", d.h. mit einem (nichtentarteten) Gitter aus Dreiecken überzieht.
Die Euler-Charakteristik solch einer Triangulierung ist nun die Zahl, die sich aus der bekannten Formel
\chi=e-k+f
ergibt, wobei e die Anzahl der Knotenpunkte, k die Anzahl der Kanten und f die Anzahl der Flächen in unserer Triangulierung ist.
Man kann zeigen, dass die Eulercharakteristik nicht von der gewählten Triangulierung, sondern nur von der Geometrie der Fläche abhängt. So hat z.B. die Kugeloberfläche die Eulercharakteristik 2, die Oberfläche eines Torus jedoch 0.
Die Eulercharakteristik ist eine Homöomorphie-Invariante, denn ein Homöomorphismus zwischen zwei Flächen überführt eine Triangulierung der einen Fläche in eine Triangulierung der anderen und beide haben dieselbe Euler-Charakteristik. In der Tat stellt sich mit der entsprechenden Maschinerie in der Hinterhand heraus, dass sie, wie die vorangegangenen Beispiele ebenfalls, sogar eine Homotopie-Invariante der Fläche ist.
Hat man also eine Methode zur Berechnung dieser Euler-Charakteristiken zur Hand, kann man sie ggf. nutzen, um zwei Flächen topologisch zu unterscheiden.
Euler-Charakteristiken treten nicht nur in der Topologie auf. Sie sind mit geeigneten Methoden für sehr allgemeine Räume definierbar, die teilweise gar nicht mehr unbedingt topologische Räume sein müssen.
So führt der Versuch, die Idee der Triangulierungen ins Höherdimensionale zu verallgemeinern, sehr schnell zum Konzept des Simplizialkomplexes. Dabei werden die Punkte, Kanten und Dreiecke aus obigen Vorgehen durch Simplizes verschiedener Dimensionen ersetzt.
Was ein Simplex dabei genau ist, hängt von der Sichtweise auf dieses Konzept ab. Geometrisch mag man sich unter einem n-Simplex eine homöomorphe Kopie des Standard n-Simplex
\Delta_n:=menge((x_0, ..., x_n)\in\IR^(n+1) | x_i>=0, x_0+x_1+...+x_n=1)
vorstellen.
Für topologische Räume, die sich auf eine gutartige Weise aus endlich vielen Simplizes zusammensetzen lassen, lässt sich nun ebenfalls die Euler-Charakteristik definieren. Für triangulierbare Flächen kommt wieder die obige Definition heraus.
Da man auf Simplizialkomplexe nicht nur geometrisch schauen kann, das Konzept im Gegenteil viel allgemeiner anwendbar ist, etwa in der Kombinatorik, lassen sich so Mittel der algebraischen Topologie auf auf andere Bereiche der Mathematik anwenden.
So ist etwa die Eulersche Polyeder-Formel e-k+f=2, die für planare Graphen gilt, bei geeigneter Sichtweise nur eine Umformulierung der topologischen Tatsache, dass die Euler-Charakteristik der Sphäre gleich 2 ist.
Gewissen Objekten der diskreten Mathematik wie partiellen Ordnungen lassen sich auf kanonische Weise Simplizialkomplexe zuordnen.
Hinreichend verallgemeinert tritt das Konzept z.B. auch in der Kategorientheorie auf.
Der Abbildungsgrad
Ein sehr mächtiges Konzept, das sich an der Grenzschicht zwischen Analysis und algebraischer Topologie befindet, ist der Abbildungsgrad.
Das Grundkonzept dabei ist es, einer stetigen Funktion f: U^-\to\IR^n eine ganze Zahl d(f,U) zuzuordnen, die in gewisser Weise die Nullstellen von f mit geeigneten Vielfachheiten und Vorzeichen zählt.
Dabei soll U eine beschränkte, offene Menge sein und f auf dem Rand von U nirgendwo verschwinden. Die Menge aller solchen Funktionen f nennen wir vorerst C_0(U^-).
Es gibt nun viele verschiedene Möglichkeiten, dieses d konkret anzugeben, die alle mehr oder minder technisch sind. Wir beschränken uns auf eine axiomatische Behandlung und betrachten folgende Axiome für solch eine Abbildung d:
\ll(1)Wenn 0\in\ U, dann ist d(id_array(U^-),U)=1
\ll(2)Wenn U\supseteq\ V_1\union\ V_2 mit disjunkten, offenen Mengen V_1 und V_2, sodass f^(-1)(0)\subseteq\ V_1\union\ V_2 ist, dann gilt d(f,U)=d(f,V_1)+d(f,V_2)
\ll(3)Wenn h_t: U^-\to\IR^n eine Homotopie mit h_t(x)!=0 für alle t und alle x\in\partial||U ist, dann gilt d(h_0,U)=d(h_1,U).
Man kann zeigen, dass es genau eine Abbildung d gibt, die diese Axiome erfüllt. Sie heißt array(\(Brouwer'scher\) Abbildungsgrad)____.
Der Abbildungsgrad hat nun eine Reihe bemerkenswerter Eigenschaften. So gilt etwa:
\ll(4)Ist d(f,U)!=0, so enthält f(U) eine Nullumgebung.
Insbesondere ist damit die Gleichung f(x)=0 lösbar! Die Theorie des Abbildungsgrades findet mit diesem Satz bemerkenswerte Anwendungen etwa in der Theorie der Differentialgleichungen, wo damit diverse Existenzsätze gefolgert werden können. Diverse Verallgemeinerungen des Konzeptes auf unendlichdimensionale Settings \(etwa der Leray\-Schauder\-Grad\) spielen hier ebenfalls bedeutsame Rollen.
Weiter lässt sich der Abbildungsgrad für eine große Klasse von Funktionen sehr einfach berechnen, indem man die folgenden beiden Eigenschaften ausnutzt:
\ll(5)Ist V\subseteq\ U offen und f^(-1)(0)\subseteq\ V, so gilt d(f,U)=d(f,V).
\ll(6)Ist f:U\to\IR^n stetig diffbar und a\in\ U eine reguläre Nullstelle von f, d.h. det$f'(a)!=0, dann gibt es einen kleinen Ball V\subseteq\ U um a, sodass a die einzige Nullstelle von f in V ist. Dann gilt d(f,V)=sgn$det(f'(a)).
Beides zusammen erlaubt etwa die einfache Berechnung von d(f,U), falls 0 ein regulärer Wert von f ist, d.h. falls alle Nullstellen regulär sind. Dann kann sich auf kleine Umgebungen der Nullstellenmenge beschränken nach (5). Ist diese Umgebung klein genug gewählt, zerfällt sie in offene Mengen, die jeweils nur noch eine einzige Nullstelle enthalten. In jeder dieser Mengen kann man mit (6) den Abbildungsgrad berechnen. Der Gesamtgrad d(f,U) ergibt sich nach (2) durch Addition.
Zusammen mit der Homotopie\-Invarianz des Abbildungsgrades \(Eigenschaft (3)\) wird so die Berechnung deutlich vereinfacht, weil man oft in der Lage ist, durch eine leichte Deformation der Funktion eine homotope Abbildung zu erhalten, die C^1 ist und 0 als regulären Wert hat und so eine einfache Berechung des Abbildungsgrades erlaubt.
Weitere Anwendungen der Eigenschaften des Abbildungsgrades sind klassische Aussagen der algebraischen Topologie wie etwa die Invarianz der Dimension, der Satz über die Gebietstreue und der Brouwersche Fixpunktsatz:
Invarianz der Dimension
\IR^n und \IR^m sind genau dann homöomorph, wenn n=m.
Satz von der Gebietstreue
Ist U\subseteq\IR^n offen und f:U\to\IR^n injektiv und stetig, so ist f(U) offen.
Brouwer'scher Fixpunktsatz
Sei D^n:=menge(x\in\IR^n | norm(x)<=1) die abgeschlossene Einheitskugel. Jede stetige Abbildung f: D^n\to\ D^n hat einen Fixpunkt.
Sätze wie diese, die bereits Brouwer bekannt waren, und viele weitere, die sich mit Hilfe des Abbildungsgrades beweisen lassen, haben wesentlich zur Entwicklung der algebraischen Topologie beigetragen und zeigen, wie man mächtige Resultate mit den Mitteln der algebraischen Topologie gewinnen kann, solange man sich nur auf die etwas aufwändige Vorarbeit einlässt, die dafür zu leisten ist.
Den Satz von der Invarianz der Dimension und den Brouwerschen Fixpunktsatz werden wir im Laufe der folgenden Artikel auch noch beweisen, allerdings mit homologischen Methoden und nicht mit Hilfe des Abbildungsgrades.
Wie es weitergeht
Man könnte sicherlich noch viel, viel mehr Beispielanwendungen aufzeigen, die die Ideen hinter der algebraischen Topologie motiviert haben. Ich will es aber vorerst dabei bewenden lassen und hoffe, dass ich eine gute Motivation zum Weiterlesen gegeben habe.
Wir werden uns im nächsten Artikel der Reihe mit einem sehr vielfältig einsetzbaren Konstrukt der algebraischen Topologie auseinandersetzen, nämlich mit dem Konzept der Homologie und Kohomologie topologischer Räume.
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Die Reihe "Algebraische Topologie"
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