Wir definieren die Funktion
als die Identität, d.h.
für alle
. Vielleicht mag der eine oder andere jetzt kritisieren, dass
ein "kostbarer" Buchstabe ist, welcher nicht mit so etwas langweiligem wie die Identität "überschrieben" werden darf. Da ist etwas dran, aber trotzdem ein paar Gegenargumente: Namen sind Schall und Rauch. Man könnte reelle Zahlen auch mit
oder
bezeichnen. Und statt
könnte man auch
schreiben. Letzteres wäre ziemlich sinnvoll, zumal etwas ähnliches bereits bei Polynomen gemacht wird. Allerdings möchte ich in diesem Artikel
schreiben, damit klar wird, dass die üblichen Rechnungen, die bisher für "formal falsch" gehalten worden sind, in Wahrheit richtig sind - wenn man nur das
richtig definiert.
Für zwei Funktionen
sei die Funktion
wie üblich durch
definiert. Analog werden
und die
definiert, und damit auch
als Spezialfall von
. Man definiert außerdem die Verkettung/Komposition
durch
Für
erhalten wir
etc. Eine feste Zahl
liefert eine konstante Funktion, die wir der Einfachheit halber auch mit
bezeichnen. (Es handelt sich hierbei um einen
abuse of notation, der allerdings keine Probleme verursachen sollte.) Mit Funktionen kann man (fast) genauso rechnen, wie man es für reelle Zahlen gewohnt ist. Man rechnet nur mit allen Funktionswerten "gleichzeitig". Natürlich muss man mit den Definitionsbereichen aufpassen, aber darauf gehe ich hier nicht weiter ein.
Nach diesen Standard-Definitionen und unserer Definition der
Funktion können wir nun etwa die
Funktion
hinschreiben. Das ist nämlich die Funktion, die
abbildet auf
. Es ist
die Funktion
, hingegen ist
die (selten anzutreffende) Funktion
.
Wir vereinbaren noch
als eine alternative Schreibweise für
. Dann gilt also ganz allgemein
(sowie
), denn Vorschalten (bzw. Nachschalten) der Identität ändert ja nichts. Außerdem können wir nun auch Funktionen wie zum Beispiel
hinschreiben; das ist die Funktion
. Wegen
für alle
gilt
als Funktionen.
Was bisher gesagt worden ist, gilt zunächst nur für Funktionen in einer reellen Variablen. Wenn man zwei braucht, definieren wir die Funktionen
als die Projektionen auf die erste bzw. zweite Koordinate. Dann ist etwa das Additionstheorem
eine Gleichung von zwei Funktionen
.
Was komplexe Funktionen angeht, so kann man
als die Identität definieren. Dann ist etwa
die komplexe Sinus-Funktion,
ist eine komplexe polynomielle Funktion, etc.
Kommen wir zu Ableitungen. Die Ableitung
einer Funktion
ist durch
definiert; natürlich nur auf der Teilmenge des Definitionsbereiches von
, wo dieser Grenzwert existiert. Die Ableitungsregeln lauten:
(0)
(1)
für
(2)
(3)
(4)
Auch dabei handelt es sich wieder um Gleichungen von Funktionen. Es folgt zum Beispiel
für alle
. Wenn mehrere Variablen
im Spiel sind, kann man auch die partiellen Ableitungen
als (partielle) Funktionen definieren.
Üblicherweise wird die Schreibweise
als nicht präzise angesehen, mit der man aber trotzdem rechnet, und daher ist es umso besser, dass diese Gleichung in unserem Rahmen vollkommen korrekt ist. Man vergleiche das mit der üblichen Schreibweise: Definiere die Funktion
Dann gilt
für alle
. Man muss also immer erst, wenn man präzise sein will, der Funktion einen neuen Namen geben. Und bei der Berechnung der Ableitung schreibt man die Funktionswerte hin, obwohl man eigentlich gerne eine Gleichung von Funktionen hätte. Dieser Wunsch kommt schon alleine dadurch zum Vorschein, dass fast immer der Allquantor ("für alle", "
") weggelassen wird. Und diese Umstände kommen alleine dadurch, dass man der (vermeintlich) langweiligen Funktion
keinen festen Namen gegeben hat bzw. der Name
anscheinend sehr unbeliebt ist. Man hat in der Analysis keine Hemmungen
zu schreiben, also wieso sollte
dann keinen Sinn machen? Mit
wird meistens ohnehin die Funktion
gemeint, und insofern wäre es nur konsequent, die Definitionen so auszulegen, dass es auch stimmt. Und das geht zum Beispiel, indem man
definiert.
Es gibt hier übrigens noch eine Art "Hintergrundgeschichte", die sich allerdings nur an die Leser richtet, die schon etwas von
Kategorien gehört haben. Bekanntlich ist ein Morphismus in einer Kategorie mehr als nur eine "strukturerhaltende Abbildung" und entsprechend ist der Umgang mit Morphismen anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftig. Ja nicht einmal die Objekte müssen "strukturierte Mengen" sein, sondern sind völlig abstrakte Gebilde (die gewissermaßen erst durch die Morphismen zum Leben erweckt werden).
Es gibt nun aber die Möglichkeit, sich das ganze so vorzustellen (das geht letztlich auf den kürzlich verstorbenen
Alexander Grothendieck zurück): Ein
Element oder
Punkt eines Objektes
sei ein Morphismus
Dabei kann
irgendein anderes Objekt sein und es gehört zum Datum des Punktes dazu. Man spricht auch von einem
-wertigen Punkt von
. Im Falle der Kategorie der Mengen bekommt man den üblichen Begriff eines Elements, wenn man sich auf Einpunktmengen
beschränkt. Die Erweiterung auf beliebige
zahlt sich allerdings aus. Eine vollständige Erklärung würde hier zu weit führen - ich möchte nur folgende Anwendung anmerken:
Seien
zwei Morphismen mit
für alle Punkte
von
, wobei, wie zuvor
für
steht. Dann gilt schon
Tatsächlich, wir müssen lediglich den Punkt
einsetzen und sind sofort fertig. Auf diese Weise können wir uns nun aber Morphismen wie Funktionen vorstellen: Wenn
ein Morphismus ist, so liefert jeder Punkt
einen Punkt
, und durch diese Wirkung auf den Punkten ist
bereits vollständig bestimmt. Umgekehrt liefert jede "natürliche" Wirkung auf den Punkten einen Morphismus - das ist die Aussage des Yoneda-Lemmas. All das liegt an der Existenz eines
universellen Punktes , den es in der klassischen Sichtweise gar nicht geben würde. Den universellen Punkt der Menge
haben wir
genannt. Wir können ihn auch als die "universelle reelle Zahl" sehen.
Das war's schon an dieser Stelle. Scheut nicht vor Kommentaren zurück.