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Autor |
Integrationstheorie à la Bourbaki |
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Ex_Mitglied_4018
 | Themenstart: 2004-02-10
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Hi folks!
Ich hab im Anhang von "Funktionalanalysis - Werner" folgendes gelesen:
"[...] Abschließend sei erwähnt, dass es noch den Aufbau der Integrationstheorie à la Bourbaki gibt, der aber trotz zugegebenermaßen größeren mathematischen Eleganz für die Lernenden schwerer zugänglich zu sein scheint. [...Literaturangaben...]"
Die letzte Bemerkung schreckt mich nicht ab, die aber davor hat mein Interesse geweckt! Bevor ich mich jetzt auf die Referenzen stürze (und etwas völlig irrelevantes für meine Prüfungen lerne): Wer hat Erfahrungen mit dieser Theorie gehabt? Ist es eine echte alternative zur Lebesgueschen? Und in wie weit stimmen die Resultate mit der Lebesgueschen bzw Riemannschen mit dieser überein (bzw wo sind die Unterschiede)?
Wenn keiner ne Antwort darauf hat, werde ich mir das mal angucken (und mich von den wichtigen Sachen ablenken *gg*)
Gruß, Zaos.
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[ Nachricht wurde editiert von Zaos am 2004-02-10 16:58 ]
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Buri
Senior  Dabei seit: 02.08.2003 Mitteilungen: 46791
Wohnort: Dresden
 | Beitrag No.1, eingetragen 2004-02-10
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Hi Zaos,
diese Theorie ist tatsächlich, finde ich, elegant und darum faszinierend, sie ist auch sehr allgemein und deckt damit einen Großteil der Anwendungen, die mit Maßen zu tun haben, restlos ab. Sie ist eigentlich nicht eine Alternative, sondern eine natürliche Weiterentwicklung und Verallgemeinerung der Lebesgueschen Theorie. Die Riemannsche Theorie hat in diesem sehr schönen Gebäude höchstens den Platz einer "halbwegs interessanten Übungsaufgabe" (Jean Dieudonné) eingenommen. Alle schönen und wichtigen Resultate der Theorie (z. B. das Radon-Nikodym-Theorem und die Vollständigkeit der Räume integrierbarer Funktionen) gelten nur für das Lebesgue-Integral und dessen Verallgemeinerung, nicht für das Riemann-Integral.
In dem Buch "Integration" (N. Bourbaki, Éléments de mathématique, Band XXV, Buch VI, Kapitel III, IV, V, IX) gibt es zwei Hauptlinien:
1. Maße auf lokalkompakten topologischen Räumen.
Zu diesen gehören alle endlichdimensionalen Vektorräume, aber auch gewisse topologische Ringe und Körper, die in der algebraischen Zahlentheorie auftreten.
Es beginnt mit der Definition eines Maßes:
Ein Maß ist definiert als ein stetiges lineares Funktional auf dem Raum der stetigen Funktionen mit kompaktem Träger.
Der Wert dieser Funktionals für eine stetige Funktion f mit kompaktem Träger wird als Integral von f bezeichnet. Man betrachtet zunächst nichtnegative Maße, das sind solche, die jedem stetigen f ≥ 0 mit kompaktem Träger ein Integral ≥ 0 zuordnen.
Dann zeigt man, dass für von unten halbstetige Funktionen h mit Werten in der erweiterten Halbgerade [ 0 , Unendlich ] das Integral als Supremum der Integrale aller stetigen Funktionen f ≤ h definiert werden kann und additiv ist: Integral von h1 + h2 ist gleich dem Integral von h1 + dem Integral von h2. Dann definiert man, diesmal durch Infimumbildung, das obere Integral einer beliebigen reellwertigen Funktion. Dieser Begriff hat viele nützliche Eigenschaften. Nachdem man dann den Begriff einer integrierbaren Funktion definiert hat, geht es im wesentlichen wie in der Lebesgueschen Theorie weiter (Satz von Lebesgue, Lemma von Fatou, Satz von Fubini).
2. Maße auf separierten topologischen Räumen.
Unter Benutzung der lokalkompakten Theorie wird hier eine nochmalige weitreichende Verallgemeinerung derselben erreicht.
Es stellt sich unter anderem heraus, dass ein Maß, wie es dort definiert wird, eindeutig durch seine Werte auf den kompakten Teilmengen des Raumes bestimmt wird. Außerdem kann man genau die Bedingungen angeben, unter den eine Abbildung der Familie aller kompakten Mengen in die Menge der nichtnegativen reellen Zahlen ein Maß ist. Diese Bedingungen (Axiome) lauten
\(K, L bezeichnen kompakte, U, V offene Mengen des Raumes,
\m(K), \m(U) usw. ihre Maße)
1) \m(K\union L)<=\m(K)+\m(L).
2) \m(K\union L)=\m(K)+\m(L), wenn K\cut L=\emptyset.
3) \m(K)=inf(U\supersetequal K ,sup(L\subsetequal U ,\m(L))) für alle K.
Ich hab mal bewiesen, dass diese drei Axiome den fünf von Bourbaki
angegebenen äquivalent sind. Für die Natürlichkeit und Tragfähigkeit
dieses Ansatzes spricht die Tatsache, dass man die Formel
\m(K\union L)=\m(K)+\m(L)-\m(K\cut L)
aus 1), 2), 3) folgern kann, aber es ist nicht so leicht!
Aus ihr folgt die Additivität und sogar die \s-Addivität von \m
für eine große Klasse von Mengen, eben den integrierbaren Mengen
(=meßbare Mengen endlichen Maßes).
Vorteile dieses theoretischen Aufbaus:
- sehr allgemein
- die Endlichkeit des Maßraums, wie in vielen Büchern zu finden, wird nicht vorausgesetzt, von vornherein wird zugelassen, dass das Maß des ganzen Raums unendlich ist.
Damit wird der unnötige Umweg, beim Einführen der Maßtheorie auf R zunächst alles für ein endliches Intervall zu machen, vermieden.
Ich habe hier nur einiges angedeutet, du verstehst sicher, dass eine vollständigere Würdigung dieser Theorie zu weit führt!
Gruß Buri
[ Nachricht wurde editiert von Buri am 12.04.2011 18:53:16 ]
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Ex_Mitglied_4018
 | Beitrag No.2, vom Themenstarter, eingetragen 2004-02-10
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Hi Buri,
vielen Dank für die ausführliche Antwort. Was mir auffiel: das meiste ist nicht wesentlich neu für mich. Wie Ich das richtig verstanden habe, wird die Integrationstheorie auf einem beliebigen Maßraum aufgebaut. Ich dachte das IST die Lebesguesche Integrationstheorie, so haben wir das jedenfalls in Analysis III gemacht. Sicher, irgendwann haben wir uns nur auf das Lebesguesche Maß konzentriert, aber der Aufbau war sehr allgemein.
Interessant, wir haben also Bourbakis Integrationstheorie gemacht. Dann kann ich mir also vorerst den Blick in die Literatur sparen ;-)
beste Grüße, Zaos
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Buri
Senior  Dabei seit: 02.08.2003 Mitteilungen: 46791
Wohnort: Dresden
 | Beitrag No.3, eingetragen 2004-02-10
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Hi Zaos,
du schreibst:
>>> Interessant, wir haben also Bourbakis Integrationstheorie gemacht.
Ob das so ist? Sicher ist das Gedankengut mit eingeflossen.
Aber der Ansatz besteht doch nicht darin, Integrationstheorie auf beliebigen Maßräumen zu machen (das hat z. B. Carathéodory äußerst engagiert vertreten), sondern die meisten Maßräume sind gleichzeitig topologische Räume.
Bourbakis Theorie studiert solche Maßräume, damit die Theorie tragfähig wird, müssen Verträglichkeitsbedingungen zwischen Topologie und Maß gestellt werden. In der Sprache der Vor-Bourbaki-Theorie bedeutet das im wesentlichen: das Maß muß regulär sein (es gibt innere und äußere Regularität und alles Mögliche, was man sich nicht merken kann).
Es ist ganz ähnlich wie bei den Vektorräumen: die lineare Algebra ist die Theorie beliebiger Vektorräume, und so wie man Maßräume ohne irgendwas dazu untersuchen kann, so kann man auch Vektorräume ohne zusätzliche Struktur betrachten. Aber die Theorie wurde viel fruchtbarer und den Anwendungen besser gerecht, als Kolmogoroff und von Neumann topologische Vektorräume betrachteten (später entstand noch der Begriff "topologische Gruppe"). Die Verträglichkeit zwischen Linearstruktur (Vektorraumstruktur) und Topologie besagt hier, dass beide Vektorraumoperationen stetig sein müssen, der Grundkörper wird dabei als topologischer Körper aufgefaßt, z. B. R mit der gewöhnlichen oder ein beliebiger Körper mit der diskreten Topologie.
Gruß Buri
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Ex_Mitglied_4018
 | Beitrag No.4, vom Themenstarter, eingetragen 2004-02-10
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Ja ich weiß... und dann die Lieschen Gruppen, wo noch differenzirbare Strukturen einfließen. (BTW Ich liebe Kategorietheorie *g* egal, is was anderes)
Zurück zur ursprünglich im Topic erwähnten Kategorie: Maßräume.
Du meinst, dass in der Bourbakischen Theorie das ganze mit Maßräumen aufgebaut wird, die zugleich topologische Strukturen tragen. Womöglich verlangt man da zusätzlich, dass alle offenen Mengen meßbar sind. Im Grunde genommen betrachtet man die Borel-meßbaren Mengen, oder? (Eben mit solchen Maßräumen haben wir gearbeitet, sprich nimm einen topologischen Raum X und den davon induzierten Borelmaßraum und ...arbeite damit.)
?
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Buri
Senior  Dabei seit: 02.08.2003 Mitteilungen: 46791
Wohnort: Dresden
 | Beitrag No.5, eingetragen 2004-02-10
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Hi Zaos,
ja, das stimmt. Aber es wird nicht direkt gefordert, dass die offenen Mengen meßbar sind. Am Schluß kommt es aber so heraus, d. h. die Theorie hat ein wenig mit den Borelmengen zu tun. Aber wegen der Nullmengen ist die Klasse der meßbaren Mengen viel umfangreicher.
Gruß Buri
[ Nachricht wurde editiert von Buri am 12.04.2011 18:49:05 ]
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Ex_Mitglied_4018
 | Beitrag No.6, vom Themenstarter, eingetragen 2004-02-10
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Ah ja! sehe Ich ein, hast Recht.
Also Ich werde mir irgendwann mal das ganze in der vollen Allgemeinheit ansehen, wenn ich Zeit habe. Bis dahin begnüge Ich mich damit, dass mir die Idee für die elegante Theorie durchaus bekannt und vertraut ist.
Also nochmals, vielen Dank für deine Ausführungen!
Gruß, Zaos
[ Nachricht wurde editiert von Zaos am 2004-02-10 20:59 ]
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Ex_Mitglied_4018 hat die Antworten auf ihre/seine Frage gesehen. Ex_Mitglied_4018 hat selbst das Ok-Häkchen gesetzt. |
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