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Ergebnisse vs. Elementarereignisse |
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Mathze
Wenig Aktiv  Dabei seit: 05.01.2015 Mitteilungen: 46
 | Themenstart: 2022-10-24
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Hallo zusammen,
bekanntermaßen gilt per Definition: Ist \(\Omega\) ein Stichprobenraum und \(\mathcal{E}\) eine \(\sigma\)-Algebra über \(\Omega\), so ordnet ein Wahrscheinlichkeitsmaß \(P:\mathcal{E} \longrightarrow [0,1]\) jedem Ereignis \(E \in \mathcal{E}\) eine Wahrscheinlichkeit \(P(E)\) zu. Die Elemente \(\omega \in \Omega\) werden in der Literatur meist "Ergebnisse" genannt. Streng genommen werden den \(\omega\) vom W-Maß keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet, da sie Objekte (oft Zahlen), aber keine Mengen sind, und das W-Maß nunmal eine Mengenfunktion ist. Den einelementigen Mengen \(\{\omega\}\), oft "Elementarereignisse" genannt, hingegen werden Wahrscheinlichkeiten zugeordnet, denn sie sind per Definition in \(\mathcal{E}\) enthalten. Soviel zur Theorie, ich hoffe, ich habe alles korrekt erfasst, wenn nicht, so gebt mir bitte Bescheid.
Meine Frage: Wie pingelig ist man da in der Wissenschaft (also an Unis, in mathematischen Fachzeitschriften und im universitären Lehrbuchwesen) und überall dort, wo man sich begriffliche Strenge auf die Fahnen schreibt? Ich habe noch in keinem Lehrbuch explizit gesehen, dass auf diesen feinen Unterschied aufmerksam gemacht wird (z. B. Georgii, Klenke, Henze). Zu sagen: "Das Ergebnis hat die und die Wahrscheinlichkeit", da ist ja jeder sachkundigen Person bewusst, was gemeint ist.
In einigen Lehrbüchern wird der Stichprobenraum auch als "Raum der Elementarereignisse" bezeichnet, auch hier wird nicht sauber zwischen einelementiger Menge und Element unterschieden. Um die Begriffe vollends durcheinanderzubringen, gibt es Bücher, die dann noch \(P(\omega):=P(\{\omega\})\) definieren, wodurch die Unterscheidung endgültig verwischt. Weh tut das in meinen Augen alles nicht, doch es geht ja in der Mathematik um Konsistenz, und vielleicht lässt sich ja bei einem unbedarften Gebrauch ein Widerspruch konstruieren.
Ich bin an Eurer Meinung dazu interessiert, insbesondere (aber nicht nur) von allen aktiven und ehemaligen Hochschulmathematikern.
Viele Grüße
Mathze
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AnnaKath
Senior  Dabei seit: 18.12.2006 Mitteilungen: 3746
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 | Beitrag No.1, eingetragen 2022-10-24
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Huhu Mathze,
nichts in der Definition eines Wahrscheinlichkeitsraumes $(\Omega, \mathcal{E}, P)$ garantiert, dass "Elementarereignisse", also die Mengen $\{\omega \}$ für $\omega \in \Omega$, in der $\sigma$-Algebra enthalten sind...
Ich würde mich sehr wundern, wenn in (vernünftigen) Lehrbüchern also solche Dinge, wie von Dir aufgeführt, geschrieben sind. In meinen Büchern stehen solche Dinge nur bei diskreten W'Räumen erwähnt (und dort betrachtet man in der Regel ja auch eine sehr spezielle Algebra, so dass die Elementarereignisse natürlich tatsächlich messbar sind).
Diskrete W'Räume sind konzeptionell nicht sonderlich schwer zu erfassen; sie dienen in meiner Sicht meist nur zur Motivation und so kann man da auch ein wenig grosszügig mit Formulierungen und Notationen sein.
lg, AK
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Mathze
Wenig Aktiv  Dabei seit: 05.01.2015 Mitteilungen: 46
 | Beitrag No.2, vom Themenstarter, eingetragen 2022-10-24
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Hallo AnnaKath,
vielen Dank für Deine Antwort. Ja, Du hast Recht, die Elementarereignisse müssen natürlich nicht in jeder \(\sigma\)-Algebra vorkommen. Ich hatte die Borel-\(\sigma\)-Algebra über \(\mathbb{R}\) im Kopf und habe vergessen, dass es natürlich noch viel mehr Sigma-Algebren gibt.
Na ja, wenn diese Dinge in deinen Lehrbüchern nur bei diskreten Wahrscheinlichkeitsräumen erwähnt sind, dann sind sie ja erwähnt. :) Wenn Du mir eines der Lehrbücher nennen könntest, wäre ich dankbar.
Ich hab noch mal ein bisschen das Internet durchforstet und bin hierauf gestoßen:
https://stats.stackexchange.com/questions/264250/what-is-the-difference-between-elementary-event-and-outcome
https://math.stackexchange.com/questions/1697896/elementary-events-vs-elements-in-the-sample-space
VG
Mathze
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AnnaKath
Senior  Dabei seit: 18.12.2006 Mitteilungen: 3746
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 | Beitrag No.3, eingetragen 2022-10-25
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Huhu Mathze,
ich denke, es verhält sich in gewisser Weise "anders herum" als Du befürchtest:
W-Theorie untersucht Zufallsexperimente. Diese haben ein Ausgang ("Ergebnis") und diesen versucht man eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen.
Naiv, aber damit nahe an der Anschauung, prägt man einige Begriffe anhand einfacher Beispiele (Münzwurf), typischerweise zunächst anhand diskreter Zufallsexperimente. Dadurch entstehen Begriffe wie "Ergebnisraum" oder eine "Wahrscheinlichkeitsfunktion". $\sigma$-Algebren und "Ereignisse" tauchen in dieser Beschreibung gar nicht auf.
Sobald man aber versucht, etwas kompliziertere Zufallsexperimente ($\beta$-Zerfall in einem Atomkern) zu modellieren, stellt man fest, dass diese naiven Begriffe "problematisch" und nicht ausreichend sind.
Der mathematische Wahrscheinlichkeitsraum ist nun ein Modell für ein solches (allgemeines) Experiment. Die maßtheoretische Herangehensweise erweist sich als mächtiger und auch geeigneter, die tatsächlich interessierenden Zufallsesperimente zu formulieren. Allerdings entfernt man sich durch die Modellierung natürlich von der Anschauung und den einfachen Beispielen, die meist das intuitive Verständnis prägen.
Als "Kompromiss" versucht man so viel wie möglich der naiven Betrachtung zu "retten" und definiert "Elementarereignisse" und "Dichtefunktionen" (wo möglich). Es ist dann auch durchaus zweckmässig und für einfache Experimente auch völlig ausreichend, Abkürzungen einzusetzen. Im mathematischen Modell gibt es keine Wahrscheinlichkeit für Kopf beim Münzwurf; praktisch möchte man aber genau eine solche wissen.
Deshalb ist es völlig richtig und gut, etwa $p(\mathrm{Kopf}) = P(\{ \mathrm{Kopf} \} )$ zu setzen.
lg, AK
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Mathze
Wenig Aktiv  Dabei seit: 05.01.2015 Mitteilungen: 46
 | Beitrag No.4, vom Themenstarter, eingetragen 2022-10-26
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Hallo AnnaKath,
vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Es geht mir vor allem um eine Definition in einführenden Darstellungen. Ich habe jetzt noch mal ein bisschen in der Literatur geschaut, und habe in vier Büchern die Definition \(\omega\) (Klenke, Behrends, Gnedenko, Krengel) und in drei Büchern die Definition \(\{\omega\}\) (Henze, Mosler und Schmid, Büchter und Henn) für ein Elementarereignis gefunden.
Die deutsche Wikipedia hat auch einen Absatz zu dieser Unterscheidung, den habe ich erst heute entdeckt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ereignis_(Wahrscheinlichkeitstheorie)
Die englische Wikipedia sieht Elementarereignisse als einpunktige Mengen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Elementary_event
Letztlich denke ich, wie so häufig: Eine Sache der Definition, mit guten Gründen für jede Variante.
VG
Mathze
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Mathze hat die Antworten auf ihre/seine Frage gesehen. Mathze hat selbst das Ok-Häkchen gesetzt. |
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